Was sind immaterielle Vermögensgegenstände? Was sind immaterielle Vermögenswerte? Wo tauchen sie in der Bilanz auf? Und vor allem: Was bedeuten sie für Aktienunternehmen?
Immaterielle Vermögenswerte nehmen in den Bilanzen der Unternehmen einen immer größer werdenden Teil ein. Dabei gibt es zwei wichtige Unterschiede, die sie gegenüber herkömmlichen Vermögenswerten chancen-, aber womöglich auch risikoreicher machen. Das hat auch Auswirkungen auf die Renditen von Aktien.
Amazon hat selbst optimistische Prognosen aus 2017 übertroffen. Aber warum? Und was verrät uns das über das Treffen von Prognosen und immaterielle Vermögenswerte?
Hier zeige ich dir was immaterielle Vermögensgegenstände sind, was diese von materiellen Vermögensgegenständen unterscheidet und was du als Aktionär darüber wissen musst. Außerdem geht es um das Treffen von guten Prognosen und wie es bei Amazon im Jahr 2017 gescheitert ist.
Basis für diesen Beitrag stellt diese Untersuchung von Morgan Stanley dar. Viel Spaß!
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Was ist aus den Prognosen zur Amazon-Aktie aus 2017 geworden?
Am 25. März 2017 erschien die renommierte Wirtschaftszeitung "Economist" in den USA mit dem Titel "Amazon's empire". Es ging also um Amazon und die Größe, die es bis dahin schon erreicht hatte.
Bis heute wissen wir: Amazon hat seitdem knapp 38% Rendite pro Jahr erzielt gegenüber dem S&P 500, der bei knapp 16% lag. Ein großartiges Investment also.
Im Artikel wagt ein Analyst eine Prognose: Amazon würde bis 2025 weiter mit 16% pro Jahr im Umsatz wachsen und damit 2025 einen Jahresumsatz von 517 Mrd. US-Dollar erzielen.
Dazu wird erwähnt: Kein Unternehmen, das über 100 Mrd. US-Dollar wert war, hat jemals (im Datensatz seit 1950) für so lange Wachstumsraten rund um 15% erzielt. Selbst diese Prognose von 16% scheint statistisch also sehr optimistisch.
Tatsächlich wird Amazon aller Voraussicht nach schon in Q1 2022 das für 2025 ausgerufene Umsatzziel erreichen. Der Umsatz ist dann mit 28% pro Jahr gewachsen - also 12 Prozentpunkte mehr als vom Analysten prognostiziert, obwohl diese Prognose schon als optimistisch galt.
Dieses Beispiel verdeutlicht sehr schön, wie Prognosen getroffen werden können.
Die beiden Wege um eine Prognose zu machen (und welcher besser ist)
Es gibt zwei zentrale Wege um eine Vorhersage zu machen. Selbst Anleger, die sich selbst als passive Anleger bezeichnen würden, nutzen meist einen davon. Ich beziehe hier beide Denkweisen vor allem auf die Analyse einer Aktie.
#1 Kausales Denken (Blick von innen)
Im kausalen Denken versuchst du Informationen zu sammeln, die dir ein besseres Verständnis liefern. Du kombinierst sie mit deiner eigenen Meinung und Erfahrung und überträgst diese in die Zukunft.
Du schaust dir beispielsweise ein Geschäftsmodell und den Umsatz an, projizierst diesen in die Zukunft und triffst Annahmen zu Gewinnmargen. Dabei helfen Expertenmeinungen, bisherige Erfahrungswerte, Markttrends, der Burggraben des Unternehmens und makroökonomische Rahmenbedingungen.
Kausales Denken ist natürlich und intuitiv. Es entsteht oft durch Storytelling: Der CEO bzw. ein Unternehmen hat eine Vision, von der es dich überzeugen möchte. Oder du hast eine Vision für ein Unternehmen, die sich auf kausalem Denken begründet.
#2 Statistisches Denken (Blick von außen)
Beim statistischen Denken schaust du von außen auf ein Unternehmen. Du ignorierst das Storytelling und das drum herum. Stattdessen suchst du nach statistischen Fakten, die dir Anhaltspunkte liefern:
Wo gab es schon mal in der Historie Unternehmen mit ähnlichen Kennzahlen und wie haben diese abgeschnitten? Was würden wir statistisch im Durchschnitt für ein Unternehmen erwarten, das aktuell solche Kennzahlen aufweist? Was ist passiert, wenn andere in meiner Situation waren?
Du verlässt dich also nicht auf deine eigene Erfahrung, sondern auf die Erfahrungen des Marktes und von anderen. Das ist nicht schlechter, aber unnatürlicher als der Weg des Storytellings. Es gibt auch Einschränkungen, bspw. dann, wenn noch nicht genug Daten vorhanden sind oder Statistiken, die immer nur eine begrenzte Auswahl an Annahmen abbilden können, wichtige Annahmen außen vor lassen.
Ein Zitat vom legendären Fondsmanager Peter Lynch beschreibt es gut:
"Die Zukunft kann man nicht im Rückspiegel sehen." - Peter Lynch
Welcher Weg ist der bessere?
Ich bin überzeugt:
- Das statistische Denken hilft vor allem bei der Entscheidung, auf welches Spielfeld du dich begeben solltest: Kurz- vs. langfristig zu investieren, ETFs und/oder einzelne Aktien, welche einzelnen Aktien, Diversifikation etc.
- Das kausale Denken hilft bei Aktienanalysen, da es hier individuelle Faktoren gibt, die du rein über Statistik nicht abbilden kannst. Es kann dabei genau so zahlenbasiert sein, beruht aber immer auch auf Annahmen, die mit Unsicherheit verbunden sind. Die Autoren Mauboussin, Callahan und Majd kommen zum Schluss, dass dieser Blick oft etwas zu optimistisch ist.
- Beide Denkwege ergänzen sich hervorragend und führen zusammen zu besseren Ergebnissen als nur auf einen zu setzen.
- Die meisten Anleger, gerade neue, setzen nur auf Weg #1 und ihre Intuition, weshalb sie Weg #2 tendenziell etwas stärker gewichten sollten.
Diese Erkenntnisse stammen aus meiner persönlichen Erfahrung mit Anlegern, bestätigen aber auch die erwähnten Autoren. In "The Base Rate Book" (2016) schreiben Mauboussin, Callahan und Majd:
Executives and investors commonly rely on their own experience and information in making forecasts (the “inside view”) and don’t place sufficient weight on the rates of past occurrences (the “outside view”).
Dass beide Wege sich ergänzen zeigen auch Erkenntnisse aus der Psychologie.
Research in psychology shows that the most accurate forecasts are a thoughtful blend of the inside and the outside views. Here’s a helpful guide: If skill determines the outcome, you can rely more on the inside view. If luck plays a large role, you should place more weight on the outside view.
Beide Wege führen in der Kombination zu besseren Ergebnissen. Je mehr es um Fähigkeiten geht, desto wichtiger ist kausales Denken. Je größer der Anteil vom Glück ist, desto wichtiger sollte das statistische Denken sein.
Beispiel #1: Wer einen Geschäftsbericht liest (Blick von innen), bekommt immer den Eindruck, vor einer guten Investition zu stehen. Wer sich dann fragt, wieviele Aktienunternehmen statistisch überdurchschnittlich gut performen (Blick von innen), findet heraus, dass es nur etwa 20 - 40% der Unternehmen sind.
Beispiel #2: Wer überhaupt erstmal verstehen will, wie Aktienmärkte funktionieren und welche Anlagestrategien mehr und welche weniger erfolgreiche Anleger hervorbringen, sollte statistisch denken. Wer einzelne Aktien kaufen möchte sollte das ebenfalls, wird aber nicht um kausales Denken herumkommen, um Unterschiede zu entdecken, die der Markt so nicht sieht oder anders einschätzt.
Beispiel #3: Börsengänge (IPOs) liefern statistisch tendenziell unterdurchschnittliche Renditen. Trotzdem können einzelne Börsengänge hervorragend funktionieren. Welche hervorragend funktionieren, kannst du - wenn überhaupt - nur durch kausales Denken und Expertise herausfinden. Die Kenntnis über diese Statistik von IPOs kann dir zeigen, dass du hier umso vorsichtiger sein solltest und dir Aufschluss über wichtige Mechanismen geben, die zu dieser Unterrendite in der Tendenz führen (wie bspw. Anreize der bisherigen Eigentümer, Sperrfristen etc.).
Was hat das mit Amazon und immateriellen Vermögenswerten zu tun?
Der Analyst im Beitrag aus 2017 hat sich offensichtlich mehr auf das statistische Denken verlassen. Er hat dem Storytelling rund um die Amazon Aktie nicht getraut (wie viele andere Analysten und Anleger ebenfalls), sich den Datensatz angeschaut und nicht damit gerechnet, dass hier ein Unternehmen ist, dass einen neuen, bisher nicht da gewesenen Bestwert liefern wird.
Das ist nur ein Beispiel und womöglich hätte der Analyst in anderen Fällen Recht gehabt. Es zeigt aber gut, dass statistisches Denken allein limitiert ist.
Spannend ist aber nun, warum Amazon womöglich in der Lage war, die Grenze nach oben zu durchbrechen. Spoiler: Es hat mit immateriellen Vermögenswerten zu tun.
Wachstum in der Welt immaterieller Vermögenswerte
Unternehmen wachsen, indem sie eine Rendite aufs Kapital erzielen. Im englischen: Return on Investment (ROI). Was steckt hinter "Return" (Rendite) und "Investments"?
- Return (Rendite): Der Gewinn, der das Produkt aus Umsatz und Gewinnmarge ist.
- Investment: Die Summe aus materiellen ("tangible") und immateriellen ("immateriellen") Vermögensgegenständen, in die das Geld des Unternehmens investiert ist.
Schauen wir uns nun speziell die Seite der Investments, also der Vermögenswerte, an.
Was sind materielle und immaterielle Vermögenswerte?
Was sind materielle Vermögensgegenstände? Materielle Vermögenswerte lassen sich anfassen, existieren also physisch, und für die Umsatzerzielung nutzen. Dazu gehören bspw. Fabriken, Autos, Maschinen und Rohstoffe.
Was sind immaterielle Vermögensgegenstände? Immaterielle Vermögenswerte tragen zur Umsatzerzielung bei, existieren aber nicht physisch. Dazu gehören bspw. Patente (wie für Medikamente oder technische Erfindungen), Rezepte (wie das für Coca Cola) oder Software.
Zwischen beiden Arten von Vermögenswerten gibt es damit Unterschiede. Bspw. sind materielle Vermögensgegenstände schwerer mit anderen teilbar, immaterielle hingegen schon. Die Kapazitäten einer Fabrik kann nur ein Unternehmen zur Zeit nutzen (oder in der Zeit selber weniger produzieren), ein Patent oder Software kann von beliebig vielen anderen gleichzeitig genutzt werden.
Ein anderes Beispiel: Gold ist ein materieller Vermögensgegenstand, Bitcoin ein immaterieller.
Wie immaterielle Vermögenswerte die Wachstumsraten beeinflussen
Es gibt zwei Charakteristiken, die immaterielle Vermögensgegenstände in Bezug auf das Wachstum von Unternehmen haben.
- Skaleneffekte (Economies of Scale): Da immaterielle Vermögenswerte nahezu beliebig teilbar und reproduzierbar sind, ohne dass dabei weitere Kosten entstehen, können sie enorm skaliert und ausgeweitet werden. Die einmalige Entwicklung (bspw. von Software oder Patenten) kostet Geld, die Produktion kann dann mit hohen Gewinnmargen ausgedehnt werden. Das sind die guten Neuigkeiten.
- Obsoleszenz ("Sunkenness"): Der Wert von immateriellen Vermögenswerten kann enorm fallen, wenn es eine neue und bessere Version gibt, die die alte Version überflüssig macht. Wenn eine bessere Software oder ein effizienteres Medikament entsteht, kann der Wert der Software oder des Patents schnell gegen Null fallen. Das ist die schlechte Neuigkeit.
Diese beiden Charakteristiken zeigen, wie sich die relevanten Vermögenswerte auf Unternehmen auswirken: Unternehmen, die sich mehr auf immaterielle Vermögenswerte verlassen, können viel schneller skalieren und wachsen. Auf der anderen Seite können sie deutlich schneller fallen, wenn ein Konkurrent sie überholt, da es keine materiellen Vermögenswerte gibt, die noch zu ihrem Wert verkauft werden können.
Da der Anteil immaterieller Vermögenswerte in den Bilanzen zunimmt, gehen die Autoren von Morgan Stanley davon aus, dass die Gewinner-Unternehmen höhere Wachstumsraten erzielen und halten werden als in der langfristigen Vergangenheit.
Theorie in der Praxis getestet: Je immaterieller, desto besser?
Daraus ergeben sich zwei Hypothesen:
- "Unternehmen, die auf immateriellen Vermögenswerten beruhen, können schneller wachsen als Unternehmen in der Vergangenheit."
- "Die Streuung in den Wachstumsraten von solchen Unternehmen sollte größer sein."
Positiv gesehen sollten die Unternehmen, die gewinnen, also besser abschneiden als die Gewinner der Vergangenheit. Das erzeugt Chancen. Auf der anderen Seite werden aber die Unternehmen, die ihre führende Position verlieren, umso stärker fallen, was die andere Seite der Medaille ist.
Die Autoren haben sich nun also die Daten dazu angeschaut, um diese beiden Hypothesen zu testen. Die Daten liefern das statistische Denken, das das kausale Denken zu den Charakteristiken von immateriellen Vermögenswerten ergänzt.
Die Branchen mit dem höchsten Anteil immaterieller Vermögenswerte sind seit 1978 das Gesundheitswesen und Technologie. Konsumgüter und Industrie haben geringere Anteile bzw. überwiegend materielle Vermögenswerte. Das sind die Ergebnisse:
Je höher der Anteil an immateriellen Vermögenswerten, desto mehr Wachstum ("Median CAGR" und "Mean CAGR") haben Unternehmen über die unterschiedlichen Zeiträume von einem bis zehn Jahren erzielt. Hypothese 1 scheint sich zu bestätigen.
Auch Hypothese 2 ist über den mittel- und langfristigen Blick bestätigt (siehe "Standard Deviation"): Je höher die Anteiligkeit hier ist, desto stärker schwanken Aktienunternehmen im Wert.
Außerdem wurden die Zahlen noch nach Größe der Unternehmen aufgesplittet. Die beiden Erkenntnisse daraus:
- Je größer Unternehmen werden, desto geringer wird ihre Wachstumsrate und ihre Schwankungsbreite.
- Die beiden vorherigen Hypothesen sind auch bei unterschiedlichen Unternehmensgrößen bestätigt.
Auch das Jahr 2020, in welchem die Corona-Pandemie die Wirtschaft bestimmt hat, hat überwiegend Unternehmen mit vielen immateriellen Vermögenswerten als Gewinner hervorgehen lassen. Während die Branchen Technologie und Gesundheitswesen 29% des Aktienuniversums ausmachen, gehörten über 60% der am besten abschneidenden Aktien zu diesen Branchen.
Aber: Das ist in meinen Augen eine wenig repräsentative Momentaufnahme, da - vor allem zufällig - durch Lockdowns und medizinische Notwendigkeit diese beiden Branchen wichtiger wurden, unabhängig davon, ob sie materielle oder immaterielle Vermögenswerte haben.
Fazit: Sind immaterielle Vermögenswerte gut oder schlecht?
Immaterielle Vermögensgegenstände werden immer wichtiger. Unternehmen investieren also stärker in diese als noch in den Jahrzehnten zuvor. Gleichzeitig sind die immateriellen Werte intuitiv weniger greifbar als materielle Vermögensgegenstände. Umso wichtiger ist es daher, ihre Charakteristiken zu verstehen.
Dazu gehören: Stärkere Skaleneffekte und drohende Obsoleszenz. Unternehmen mit einem hohen Anteil an immateriellen Vermögenswerten können schneller und beständiger wachsen und durch Skaleneffekte enorm groß werden, aber auch noch stärker leiden, wenn sie nicht zu den führenden Unternehmen gehören.
Vereinfacht gesagt: Gewinner- und Verlierer-Aktien unterscheiden sich in diesen Industrien deutlicher als in Industrien, in denen materielle Vermögensgegenstände dominieren.
Das ist auch ein Grund, warum es in der digitalen Welt verstärkt "Winner takes it all" Märkte gibt (bspw. Online-Suche, Online-Videoportale), in der physischen Welt meistens eher Märkte mit vielen Anbietern (bspw. Airlines, Automobilhersteller).
Außerdem haben wir am Amazon-Beispiel und den Unternehmen mit immateriellen Vermögenswerten gesehen, dass statistisches Denken allein oft nicht die ganze Wahrheit erzählt. Folgendes Zitat, das Mark Twain zugeschrieben wird, verdeutlicht den Nutzen, aber auch die Grenzen des rein statistischen Blicks:
"Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich." - Mark Twain
Auch die Autoren haben zwei abschließende Lektionen für Investoren parat: Zum einen das Bewusstsein, dass sich Wahrscheinlichkeiten in den Statistiken durch zunehmende immaterielle Vermögenswerte verändern. Zum anderen, dass sich für gute Anleger mehr Chancen für attraktive Renditen bieten werden.
There are two main lessons for investors. First, it is important to be mindful of the potential shift in the base rate as the result of the rise of intangibles. Second, skillful investors may be able to identify the companies that will grow faster than expected, hence providing the potential for attractive returns.