Was sagt eigentlich die vergangene Kursentwicklung über die Performance einer Aktie in Zukunft? Neigen Aktien eher dazu weiter zu steigen oder erholen sich gefallene Aktien umso stärker? Oder ist jede solcher Überlegungen reine Zeitverschwendung?
Hier gibt es viele Börsenmythen, hartnäckige Irrglauben und eine Antwort, für die man genau hinschauen muss.
Was sagt die Markteffizienz?
Wer daran glaubt, dass die Aktienmärkte vollständig effizient sind, hat eine klare Schlussfolgerung: Jeder Marktteilnehmer kennt die Kursbewegungen der Vergangenheit. Sobald diese Information allen bekannt ist, kann daraus kein Informationsvorteil hervorgehen.
Ergo: Es sollte Zeitverschwendung sein, uns mit der Kursperformance zu beschäftigen.
Der Aktienkurs sagt auch wenig darüber aus, ob ein Unternehmen fundamental gut oder schlecht ist. Der Kurs sagt wohl nur aus - und auch das nicht immer - ob sich die Erwartungen des Unternehmenswerts in der betrachteten Periode verbessert oder verschlechtert haben.
Ob die Chartanalyse und die technische Analyse einen Mehrwert bringen, werde ich in einem anderen Beitrag nochmal ausführlich beleuchten.
Nun gibt es aber viele Börsenweisheiten, die eher suggerieren, man solle auf steigende Aktien setzen:
- "Greife nie in ein fallendes Messer!"
- "Gewinner bleiben Gewinner" (winners keep on winning)
- "Begrenze die Verluste und lass die Gewinner laufen"
- "Trend is your friend"
Psychologisch ist beides nachvollziehbar: Die einen sehen einen steigenden Chart und schreiben ihn in die Zukunft fort und sehen schon eine enorme Rendite. Andere sehen darin eine Überbewertung und wollen eine unbeliebte, gefallene Aktie für die Turnaround-Chance.
Schauen wir empirisch darauf, was dahinter steckt. Die Antwort wird dich überraschen und stellt eine der größten Herausforderung für die Theorie effizienter Märkte dar.
Momentum vs. Mean Reversion
Tatsächlich gibt es zwei gut belegte Phänomene an der Börse, die konträr zueinander stehen:
- Momentum: Aktien, die zuletzt gut performt haben, neigen dazu weiter überdurchschnittliche Renditen zu liefern.
- Mean Reversion (Regression zum Mittelwert): Kein Unternehmen oder keine Aktie gewinnt ewig, sondern kehrt irgendwann zum Mittelwert zurück. Das bedeutet auch, dass Überflieger sich normalisieren (und Kurse eher fallen) und Underperformer sich aufrappeln (und Kurse eher steigen).
Schauen wir uns die Studien an, verstehen wir, wie beides zusammenpasst.
1985 haben De Bondt & Thaler die Studie Does the Stock Market Overreact? veröffentlicht. Sie stellen fest, dass Märkte kurzfristig dazu neigen überzureagieren, aber diese Gewinner langfristig in Verlierer verwandeln. Die Verlierer der letzten fünf Jahre werden über die nächsten fünf Jahre eher die Gewinner und umgekehrt.
Auch auf diese Studie haben Jegadeesh und Titman 1993 mit ihrer Studie Returns to Buying Winners and Selling Losers: Implications for Stock Market Efficiency reagiert.
Sie stellen fest: Über 3- und 12-Monats-Zeiträume performen die Aktien, die vorher am besten performt haben, besser. Über die nächsten Jahre verschwindet dieser Effekt aber bzw. kehrt sich eher um.
This paper documents that strategies which buy stocks that have performed well in the past and sell stocks that have performed poorly in the past generate significant positive returns over 3- to 12-month holding periods. [...] However, part of the abnormal returns generated in the first year after portfolio formation dissipates in the following two years.
2001 haben beide Autoren ihre Erkenntnisse nochmal mit neuen Daten bestätigt. Auch bestätigen sie tendenziell die These von De Bondt und Thaler, wonach wir kurzfristige Überreaktionen sehen, die langfristig abgebaut werden.
Auch sehen wir darin die folgende Darstellung, die die Rendite verdeutlicht. Etwa bei einer Haltedauer bis zu einem Jahr gewinnen die Gewinner weiter, dann kehrt sich der Effekt eher um, bis er langfristig ins Negative fällt.
1999 haben sie außerdem geschrieben, dass sie den Reversal-Effekt vor allem nach 4 und 5 Jahren beobachten:
Although we find no evidence of significant return reversals in the 2 to 3 years following the following formation date, there are significant return reversals 4 to 5 years after the formation date.
Auch James O'Shaughnessy schreibt in seinem Buch "What works on Wall Street":
Thus, our results show that although winners over the previous year continue to win in the next year, the reverse is true when you look at longer-term price appreciation. Short-term relative strength is one of the most powerful of the growth factors [...]. Longer term, you’re much better off using a contrarian strategy that selects from the group of stocks with the worst five-year price appreciation.
Tobias Wiest hat 2022 die wissenschaftlichen Studien zusammengefasst, u.a. in der folgenden Grafik, die die ermittelte Überrendite und die t-Statistik (stark vereinfacht erklärt: Streuung der Ergebnisse, je geringer, desto besser bzw. aussagekräftiger der analysierte Faktor) visualisiert. Die Erklärungen dafür können sowohl verhaltensökonomisch als auch risikoseitig sein.
Worauf es wirklich ankommt
Bei der Analyse der Kursbewegungen und was diese für die Zukunft bedeuten ist die genaue Definition essenziell.
- Über welchen Zeitraum wird die zurückliegende Performance beurteilt: 1, 3, 6 oder 12 Monate? Oder 5 Jahre?
- Wie lange wird das Portfolio gehalten, bis es neu zusammengestellt wird?
- Wird in die Top 10% investiert und die Low 10% geshortet? Wird nur long gegangen? Gibt es Schwellenwerte?
Gerade die Halteperiode ist wohl der wesentlichste Unterschied, der beide Phänomene erklärt: Kurzfristig sehen wir Momentum. Gewinner bleiben Gewinner. Aktienmärkte reagieren tendenziell zu stark. Langfristig werden Überbewertungen und Überreaktionen abgebaut, die vorherigen Gewinner schneiden schlechter ab. Die vorherigen Verlierer können sich erholen, sie werden weniger pessimistisch bewertet.
Dieser Unterschied ist enorm bedeutend.
Wer kurzfristig anlegt wird es mit einer antizyklischen These schwer haben. Wer eine Gewinner-Aktie verkauft muss damit rechnen, dass diese kurzfristig weiter steigt und man sich ärgert. Wer eine Verlierer-Aktie kauft muss damit rechnen, dass es kurzfristig ungemütlich bleibt und es 3 - 5 Jahre dauern kann, bis eine antizyklische These sich bestätigt.
Umsetzbarkeit
Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass die Momentum-Strategie die aufwendigere ist: Sie bedeutet mehr Zeitaufwand, eine höhere Umwälzung des Portfolios und damit auch höhere Transaktionskosten, ggf. auch damit verbundene steuerliche Nachteile durch den wegfallenden Steuerstundungseffekt.
Als Beispiel: Der MSCI World hat ein Turnover (= jährlicher Portfolioumschlag) von ca. 2%. Der MSCI World Momentum liegt über 100%.
ETF-Anbieter bekommen das heute gut abgebildet, für Einzelaktien-Privatanleger ist die Umsetzbarkeit damit aber deutlich schwieriger bis unmöglich. In der Tendenz kann es bei Aktienanalysen natürlich trotzdem eine ergänzende Rolle spielen, ein reines Einzelaktien-Momentum-Depot aufzubauen ist aber kaum vernünftig umsetzbar.
Die antizyklische Strategie ist die entspanntere, da sie im Kern darauf beruht, ~5 Jahre Wartezeit mitzubringen und dann eine - in der Tendenz - kleine Outperformance mitzunehmen, statt die große Outperformance der ständig umschichtenden Momentum-Strategie.
Oder: Man ignoriert beides und konzentriert sich nur auf fundamentale Kriterien. Auch das ist völlig in Ordnung.
Momentum oder antizyklisch? Beides!
Die hier besprochenen Faktoren sind immer nur Tendenzen und Aussagen "im Durchschnitt".
Das wohl korrekteste Fazit: Es gibt sowohl den Momentum-Faktor als auch die Regression zum Mittelwert, von der antizyklische Anleger profitieren. Beide funktionieren aber auf unterschiedlichen Zeitachsen, was es so gefährlich macht, wenn man diesen Kontext nicht kennt.
Kurzfristig neigen Gewinner dazu Gewinner zu bleiben, mittel- und langfristig performen gefallene Aktien besser. Wer eine Momentum-Strategie wählt, die kurzfristig auf die Gewinner setzt und diese alle paar Monate umschichtet, hat wohl insgesamt die überlegene bzw. stärker ausgeprägte Strategie, aber auch mehr Aufwand und höhere Transaktionskosten.