Es gibt einen Faktor am Aktienmarkt, der Finanzwissenschaftler ein Rätsel ist: Sicherere Aktien scheinen nicht nur das Risiko zu senken, sondern auch die Rendite leicht zu erhöhen.
Finanzwissenschaftler bezeichnen das als Volatility-Faktor (manchmal auch Low Volatility oder Minimum Volatility).
Was steckt hinter diesem Faktor? Wie kann das sein? Und wie eindeutig sind die Zahlen? Das untersuche ich hier.
Was ist der Low Volatility Faktor?
Es werden Aktien gesucht, die historisch ein möglichst geringes Risiko gezeigt haben. Das wird hier ausschließlich an der Kursentwicklung, nicht an Fundamentaldaten (wie bspw. dem Verschuldungsgrad) bemessen.
Kriterien sind dabei:
- Standardabweichung (Volatilität)
- Maximaler Drawdown
- Beta
Mehr Rendite durch weniger Risiko?
Schauen wir uns zuerst den Aktienindex "MSCI World Minimum Volatility" an. Dieser beinhaltet knapp 300 der über 1.500 Aktien aus dem Mutterindex MSCI World.
Die Rendite seit 2007 lag tatsächlich auf ziemlich ähnlichem Niveau wie der Mutterindex, die Schwankungen aber geringer.
Der Vergleich seit 1988 zeigt die Stärken des Index ggü. dem MSCI World:
- Jährliche Rendite: 8,8% vs. 8,3%
- Volatilität: 10,2% vs. 13,3% (je niedriger, desto geringer die Schwankungen)
- Sharpe-Ratio: 0,53 vs. 0,4 (je höher, desto besser das Chance-Risiko-Verhältnis)
- Maximum Drawdown: -48% vs. -57% (jeweils in der Finanzkrise von 2007 bis 2009)
Wissenschaftliche Evidenz für den Volatility Faktor
Pim van Vliet hat sich ebenfalls wissenschaftlich mit dem Faktor beschäftigt und die Erkenntnisse in das Buch "High Returns from Low Risk" gepackt. Darin zeigt er eine beeindruckende Grafik, die die Wertentwicklung von wenig- zu hochvolatilen Aktien verdeutlicht.
Demnach haben die weniger volatilen Aktien eine Rendite von 10,2% p.a. erzielt, die hochvolatilen nur 6,4% p.a.
Der Betrachtungszeitraum ist in meinen Augen etwas unfair gewählt, da er direkt vor einem großen Börsencrash startet, was weniger Risiko stark bevorteilt. Auch ohne diesen Effekt lägen die weniger volatilen Aktien allerdings vorne.
Van Vliet empfiehlt außerdem nicht nur in sicherere Aktien zu investieren, sondern bei diesen auch die günstiger bewerteten (Value) und zuletzt am besten performenden (Momentum) Aktien zu bevorzugen.
Es gibt darüber hinaus viele andere Studien, die den Faktor ebenfalls untersucht haben und belegen.
- für den Zeitraum 1972 bis 1989 (von Haugen & Baker 1991)
- für den US-Markt (von Chan et al. 1999, Schwartz 2000, Jagannathan & Ma 2003, Clarke et al. 2006)
- weltweit (Geiger & Plagge 2007, Nielsen & Subramanian 2008, Poullaouec 2008)
Beispielsweise Ang et al. (2006 & 2009) stellten fest, dass dieser Effekt von 1963 bis 2003 (dem Ende ihres Betrachtungszeitraums) in den USA und global von 1980 bis 2003 nachweisbar war. Sie stellen außerdem fest, dass hochvolatile Aktien zu geringeren Renditen neigen.
Erklärungsansätze aus der Wissenschaft
Warum ist das so? Was sind die sachlogischen Gründe, warum dieser Faktor so stabil funktioniert hat und womöglich immer noch funktioniert?
Nach der üblichen Finanzmarktlogik entsteht durch mehr Risiko auch mehr Rendite. Beim Volatility-Faktor scheint es umgekehrt. Die Erklärungsansätze sind daher fast alle verhaltensökonomisch und beruhen darauf, dass Anleger hier womöglich nicht streng rational haben:
- 1Lotterie-Effekt: Menschen tendieren dazu Wetten einzugehen, bei denen ein kleiner möglicher Verlust einem hohen möglichen Gewinn gegenübersteht, selbst wenn der Verlust um ein Vielfaches wahrscheinlicher ist. Anleger bevorzugen demnach irrationalerweise hochvolatile Aktien, die einen Charakter wie Lotto-Spielen haben.
- 2Falsche Repräsentation: Der Erfolg von wenigen sehr bekannten und volatilen Aktien lässt es so aussehen, als seien alle volatilen Aktien gute Investitionen.
- 3Selbstüberschätzung: Anleger neigen zur Selbstüberschätzung. Gerade bei volatilen Aktien gehen Meinungen stark auseinander. Optimistische Meinungen werden durch einen Aktienkauf aber viel eher ausgedrückt als pessimistische Meinungen (durch Leerverkäufe). Dadurch werden optimistische Meinungen bei volatilen Aktien überdurchschnittlich stark eingepreist, was volatile Aktien teurer macht als weniger volatile.
- 4Aufmerksamkeit: Weniger schwankende Aktien werden sowohl von Anlegern, als auch in der Forschung, weniger beachtet und daher möglicherweise weniger gekauft.
Im Paper "Understanding defensive equity" von Novy-Marx aus 2016 beschreibt dieser, dass hochvolatile Aktien vor allem deshalb schlecht abgeschnitten haben, da sie kleine, unprofitable Wachstumsunternehmen enthalten.
High volatility and high beta stocks tilt strongly to small, unprofitable, and growth firms. These tilts explain the poor absolute performance of the most aggressive stocks.
Der Low Volatility Faktor funktioniert demnach vor allem deshalb, weil diese Gruppe von Aktien dabei ausgeschlossen wird. Außerhalb dessen sei der Effekt nicht mehr zu beobachten.
Erfreulich ist, dass dieser Erklärungsansatz mit den verhaltensökonomischen Hand in Hand geht: Es erklärt einerseits, welche Aktien genau betroffen sind und andererseits, warum es zu diesen Fehlbewertungen kommt.
Fazit: Lohnt es sich auf sichere Aktien zu setzen?
Der Volatility-Faktor ist tatsächlich finanzwissenschaftlich sehr gut belegt und beständig. Seine größte Herausforderung ist der Bruch mit der gängigen Finanzmarktlogik, nach der weniger Risiko zu weniger Rendite führen sollte.
Die Erklärungsansätze sind vor allem verhaltensökonomisch, in meinen Augen dabei durchaus nachvollziehbar. Der Haupteffekt stammt allerdings nicht aus der geringeren Volatilität selbst, sondern vor allem vom Ausschluss von kleinen, teuren, stark wachsenden, unprofitablen Firmen. Wer diese vermeidet, macht sich den Low Volatility Effekt zu Nutze.
Womöglich liefert der Faktor also auch in Zukunft minimal mehr Rendite. Die Hauptthese beim Investieren in den Faktor sollte allerdings sein, dass man das Risiko reduzieren möchte, was dadurch sehr gut klappen sollte.