von Jannes Lorenzen

Gründer, Strategie-Lead & Investor

veröffentlicht: 24. August 2022

Angesichts des Kriegs in Osteuropa wird der Blick auf China vorsichtiger. Was, wenn die Beziehungen zu China ebenso eingestellt werden wie die zu Russland?

China ist für Anleger und den Aktienmarkt ungleich relevanter, das größte Land im MSCI Emerging Markets und anderen Schwellenländer-Indizes.

Die Auswirkungen wären deutlich spürbar - und es gibt viele indirekte Auswirkungen, sollte China sich aus dem Welthandel verabschieden. Oder: Verabschiedet sich vielleicht eher die westliche Welt und China wird die neue, dominierende Wirtschaftsmacht?

Egal, wie wir die Frage drehen: Die Risiken sind groß und offenbaren sich aktuell stärker denn je. Was genau ist also das China-Risiko für Anleger und wie lässt sich damit umgehen?

Ich glaube: Aktuell hilft der Blick auf Bewertungskennzahlen und die Finanzwissenschaft wenig, teilweise verfälscht er sogar. Das macht die Frage, gerade für wissenschaftlich orientierte Anleger, umso dringender.

Hier erfährst du:

  • Wie sich das China-Risiko beziffern lässt
  • Welche vier Handlungsoptionen ich sehe und für welche ich mich entscheide
  • Was Deutschlands Elite über das China-Risiko denkt
  • Warum die Finanzwissenschaft uns heute womöglich keine gute Antwort auf die Frage liefert, ob und wie wir in Schwellenländer und China investieren sollten

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Warum die Angst jetzt zunimmt

Russland äußert seit Längerem Gebietsansprüche und ist nun bereit, sich diese auch militärisch nehmen zu wollen. Die lange als selbstverständlich geglaubte Friedensdividende scheint der Vergangenheit anzugehören.

China wird ebenfalls ein großes Machtstreben zugesprochen. China erkennt Taiwan nicht als eigenständigen Staat an und es wird befürchtet, dass China diesen Anspruch auch in Zukunft in die Realität umsetzen möchte.

Das eher liberale Hongkong wurde 1997 offiziell an China als Sonderverwaltungsregion übergeben. Seitdem wurde es dort eher restriktiver, Oppositionelle wurden inhaftiert.

Russland wendet sich nun mehr China als dem Westen zu. Oder: China wendet sich weniger ab als der Westen. So scheinen in der Welt andere Allianzen gebildet zu werden.

Und was ist, wenn Sanktionen des Westens gegen China aufgefahren werden müssten? Die Wirtschaften sind noch stärker miteinander verzahnt, die Auswirkungen - abseits von Energie - wären wohl noch stärker.

Auch jetzt schon ist es schwierig direkt in chinesische Aktien zu investieren. Oftmals führt der Weg über ADRs (American Depositary Receipts), die in den USA gelistet sind und eine chinesische Aktie verbriefen.

Umfrage unter Deutschlands Elite - August 2022

Das Wirtschaftsmagazin Capital hat unterschiedliche Fragen zu China an Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik gestellt. Diese verdeutlichen den Eindruck, dass der Umgang mit China schwieriger wird.

  • 51% glauben, dass es für europäische Unternehmen zunehmend schwierig wird, in China Geschäfte zu machen - 47% sehen keine große Veränderung
  •  60% glauben, dass die Globalisierung generell an einem Wendepunkt steht - 39% nicht
  • 79% glauben, für europäische Unternehmen steigt der Druck sich zwischen den USA und China zu entscheiden
  • ~90% beunruhigt die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom chinesischen Markt, was der höchste Wert seit 2008 (damals ~70%) ist

Die Risiken & Szenarien des China-Problems

Niemand kann genau wissen, was passiert. Ein paar mögliche Szenarien:

  1. Es läuft alles weiter wie bisher. Es wird zusammengearbeitet. Risiko für Anleger in dem Fall: Keins.
  2. Es gibt weniger Zusammenarbeit, Kernindustrien werden in Heimatländern aufgebaut, die Globalisierung endet oder wird schrittweise zurückgefahren. Risiko für Anleger in dem Fall: Gering. Womöglich fällt das Wirtschaftswachstum weltweit dadurch niedriger aus, wodurch es alle Anleger betrifft.
  3. Es gibt Sanktionen oder sogar ein Verbot der Handelbarkeit von chinesischen Aktien. Risiko in dem Fall: Hoch. Direkte Investitionen in China wären sofort wertlos. Unternehmen mit hohem China-Exposure verlieren große Teile ihres Umsatzes.

Wir sehen: Je nach Szenario sind nicht nur direkte China-Anleger betroffen, sondern auch Anleger in Schwellenländer-ETFs, in Aktien mit Geschäft in China (als Zulieferer oder Absatzmarkt) und sogar globalen Aktienanlegern.

Chinas Relevanz am Aktienmarkt

Chinas Relevanz ist nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern auch am Aktienmarkt größer als die russische.

Der Anteil von China im MSCI Emerging Markets, dem populärsten Schwellenländerindex, liegt heute bei 32%. 2020 lag der Anteil noch bei 41%, da der chinesische Aktienmarkt danach relativ gesehen gefallen ist.

Einerseits ist der Anteil Chinas im Schwellenländer-Index gestiegen, aber auch der Anteil der Marktkapitalisierung der Schwellenländer in der Welt ist von ~5% vor 20 Jahren auf heute ~12% gestiegen. China ist also doppelt relevanter geworden.

Die schwierige Beziehung von China zu Taiwan könnte den von den Risiken betroffenen Anteil noch erhöhen: Taiwan macht 15% des Index aus, gerade die Halbleiterindustrie ist dort mit TSMC stark vertreten.

Damit sind 47%, fast der halbe Index, vom China-Risiko betroffen. Und neben großen Unternehmen wie TSMC auch Unternehmen wie Tencent oder Alibaba.

Warum die Finanzwissenschaft nicht hilft (oder sogar schadet)

Nun könnte man sagen: Wir wissen nicht, was passiert. Deshalb machen wir das, was die Finanzwissenschaft empfiehlt und treffen keine Prognosen.

Prinzipiell ist der Ansatz super, hat hier aber einen großen Haken.

Tendenziell empfiehlt es sich nach den bisherigen finanzwissenschaftlichen Erkenntnissen (auch) in Schwellenländer wie China zu investieren. Denn: Diese bringen langfristig in den meisten Fällen etwas mehr Rendite, das auf ein höheres politisches Risiko zurückgeführt wird.

Das ist auch heute enorm wichtig festzuhalten, denn es zeigt: Genau weil uns Schwellenländer solche Kopfschmerzen und Depotschwankungen bereiten können, sind weniger Anleger dort investiert, was die Renditechancen dort erhöht. Risiken sind nicht zwangsweise schlecht, sondern in diesem Fall sogar der Grund, dort zu investieren.

Auch aus Diversifikationsgründen kann es sinnvoll sein, da ein Großteil der Welt heute in Schwellenländern lebt und ein Großteil des weltweiten BIPs darin erwirtschaftet wird. Ausführlicher diskutiere ich solche grundsätzlichen Fragen in der Academy.

Eine schwierige Datenlage

Das alles gilt auch heute noch und ist stimmig. Die Finanzwissenschaft arbeitet, gerade in diesem Fall, arbeitet mit historischen Daten. Sie stellt fest:

"Schwellenländer haben eine höhere Rendite erzielt. Woran kann das legen? Hätten Anleger in der Vergangenheit durch eine Beimischung von Schwellenländer-Aktien besser abgeschnitten?"

Das Ergebnis dieser Beobachtungen und Fragen habe ich gerade beschrieben. Das Problem: Zugrunde liegen historische Daten, die zentral von den Rahmenbedingungen abhängen.

Die Aktienmärkte in den Industrienationen können wir oft 50 Jahre, teilweise sogar 100 oder 200 Jahre zurückverfolgen, in denen alles Mögliche an Glück und Unglück passiert ist.

Die Historie der Schwellenländer ist aber kürzer, da es dort oftmals keine freien Märkte, geschweige denn freie Kapitalmärkte, gab:

  • Der MSCI Emerging Markets ist 1988 aufgelegt worden.
  • Finanzfluss, der größte deutsche YouTube-Kanal und Verfechter des passiven Investierens, vergleicht hier die Gewichtung der Schwellenländer ab 1998.
  • Im Credit Suisse Global Investment Returns Yearbook 2022 wurden viele Länder ab 1950 schrittweise aufgenommen, ein Großteil erst ab 1990.
  • In einer Studie von 2001 ("Stock Performance of Emerging Markets") wurde der Zeitraum ab 1984. So standen nur 14 Betrachtungsjahre zur Verfügung.

Die London Business School und die Credit Suisse haben versucht, die Rendite einiger Schwellenländer bis 1900 zurückzurechnen und mit Industrieländern zu vergleichen. Das Ergebnis: Langfristig liegen Industrieländer vorne, seit 1950 die Schwellenländer. Gerade der Einbruch in den 1940er-Jahren ist allerdings beachtlich.

Gelten die Rahmenbedingungen noch immer?

Wenn ich in der Wissenschaft ein theoretisches Modell entwickle, muss ich Annahmen treffen, die die Realität möglichst gut widerspiegeln. Und wenn ich mit historischen Daten arbeite, müssen die Rahmenbedingungen möglichst dicht an denen der Zukunft sein, damit sie ihre Gültigkeit behalten.

Es gab in den üblichen Betrachtungszeiträumen ab 1970 durchaus Staatspleiten von Schwellenländern, die auch negative Auswirkungen auf die Aktienmärkte der Länder hatten: Beispielsweise Russland in 1998 oder Argentinien in 2002. Keines der Länder hatte aber eine Relevanz wie China, ein solcher Effekt steckt also nicht in den Daten.

Dazu stand die Zeit seitdem im Zeichen der Globalisierung. Es wurde in China investiert, China hat in Industrieländern investiert. Warenketten haben sich verzahnt, Know How wurde ausgetauscht. Der KOF Globalisierungsindex ist von unter 40 in 1970 bis heute auf etwa 60 - 65 gestiegen.

Nun deutet sich eher eine Stagnierung oder sogar eine Deglobalisierung an. Die Pandemie hat Lieferketten lahmgelegt, Unternehmen und Staaten wurden Abhängigkeiten klar. Noch klarer wurden diese dann durch den Russland-Ukraine-Krieg. Kerntechnologien sollen in Deutschland schon jetzt nicht mehr an chinesische Unternehmen vergeben werden.

Die Deglobalisierung könnte nicht nur das Wachstum bremsen, sondern auch Hürden zwischen dem weltweiten Investieren verstärken.

Drei Beruhigungstropfen & Zwischenfazit

Um aber nicht nur das Negative hervorzustellen:

  1. Diese Risiken sind bekannt und, da wir recht effiziente Kapitalmärkte haben, auch heute in den Kursen enthalten. Man kann darüber streiten, ob sie die Risiken exakt widerspiegeln. Die Kurse sind aber durch die Risiken bereits gefallen.
  2. Schwellenländer-Investitionen beruhen auf Problemen und Risiken dieser, sollten allein - außer es übersteigt die eigene Risikobereitschaft - also kein Grund, diese zu verkaufen.
  3. Das China-Risiko betrifft ~47% der Schwellenländer. Wer 80% in Aktien investiert und davon 25% in Schwellenländer (dazu gleich mehr), hat effektiv 9,4% direkt dem China-Exposure ausgesetzt. Definitiv nicht wenig, aber für ein gut gestreutes Depot auch kein Weltuntergang. Dass diese 9,4% wertlos werden wäre der Worst Case.

Für mich verdichtet sich das Bild: Meistens geht über Jahrzehnte alles gut und Schwellenländer lohnen sich. Vereinzelt und selten treten aber Events auf (siehe oben 1940er-Jahre, zukünftig womöglich ein China-USA-Konflikt), die den Effekt zerstören können. Mit Pech erwischt man selbst diesen Zeitraum.

Schwellenländer waren auch in der Vergangenheit nicht fehler- oder risikofrei. Sie sollten eine Risikoprämie bieten und die günstigeren Bewertungen deuten das auch heute noch an - und wären bei halbwegs effizienten Märkten auch logisch. Heute liegt China bei einem KGVe von 10,5, Schwellenländer bei 11, der Weltindex ACWI bei 15.

Die Finanzwissenschaft ist hier insgesamt nicht der Weisheit letzter Schluss, da sich Rahmenbedingungen verschlechtern und größere Risiken erzeugen können.

Diese vier Handlungsoptionen haben Anleger jetzt

China selbst ist also enorm relevant, bevölkerungsreich und wächst. Die Bewertungen sind eher günstig. Andererseits gibt es ernsthafte Risiken, die uns auch die Finanzwissenschaft nicht nehmen kann.

Ich sehe unterschiedliche Optionen, die zentral von der eigenen Risikotoleranz abhängen, wie Anleger damit umgehen können:

  • Investiert bleiben: Es gibt eine Risikoprämie, die im langfristigen Durchschnitt zu etwas mehr Rendite durch Schwellenländer (neben den Diversifikationseffekten) führen sollte. Diese Risiken sollten in den Kursen heute enthalten sein, also die Kurse günstiger machen.
  • Einzelaktien auf China-Risiko prüfen: Eine zu hohe Abhängigkeit kann bei einigen Aktien ein großes Risiko sein. Wieviel setzt VW in China ab? Was, wenn Teslas neue Fabrik in China in Zukunft nicht mehr betrieben werden dürfte? Was, wenn China den Markt für westliche Autos schließt oder mit Zöllen verteuert? Alles Szenarien, die mehr Relevanz bekommen.
  • Schwellenländer vermeiden: Wer all diese Risiken nicht möchte, kann Schwellenländer vermeiden oder den Anteil reduzieren. Nicht vergessen: Es könnte dadurch aber im optimistischen Fall etwas Rendite und auch Diversifikation fehlen.
  • In Schwellenländer, aber nicht in China investieren: Das klappt durch Einzelaktien sowieso, aber auch durch ETFs (bspw. - keine Empfehlung oder Anlageberatung - mit diesem ETF). 

Schlussfolgerungen für mein Depot

Ich habe meinen Schwellenländer-Anteil fast ausschließlich durch ETFs abgebildet und den Anteil hier eher hoch bei ~30% gewählt. In Zukunft würde ich diesen eher etwas reduzieren, indem ich Neukäufe weniger auf Schwellenländer ausrichte. Selbst wenn die Finanzwissenschaft einen Anteil von 30% (und etwas mehr) rechtfertigen würde, ist mir die Datenlage dafür nicht überzeugend genug.

Grundlegend möchte ich aber Schwellenländer aus den genannten Gründen im Depot haben. Gerade ihr Bevölkerungsanteil, ihre demografische Entwicklung und der große BIP-Anteil sind genug Gründe, dass ich sie nicht ignorieren möchte.

Bei Einzelaktien-Käufen beziehe ich das China-Risiko umso stärker mit ein. Wenn zu hohe Abhängigkeiten, gerade in Bereichen, die für China enorm relevant sind, ein ganzes Unternehmen kippen können, ist das ein Risiko, das ich ungern im Depot haben möchte.

Tags: China | Aktien:

Disclaimer: Die Inhalte stellen keine Anlageberatung, Kauf- oder Verkaufsempfehlungen dar, sondern spiegeln nur meine persönliche Meinung wider. Jede Investition ist mit Risiken verbunden, die du selbst prüfen musst. Es gibt keine Garantien. Ich kann selbst in besprochene Aktien investiert sein. * Bei Partnerlinks erhalte ich ggf. eine Provision.

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Ich bin Jannes, Jahrgang 1993 und Gründer von StrategyInvest. Seit 2011 investiere ich an der Börse. Damals habe ich mein VWL-Studium mit Finanzschwerpunkt erfolgreich absolviert und bin nun seit mehreren Jahren in der Digital- und Techbranche aktiv, aktuell als Product & Strategy Lead. Ich kenne daher Investieren, Technologie und Unternehmertum aus wissenschaftlicher Sicht, aber auch aus der Praxis. Die Erkenntnisse daraus teile ich hier.

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Auszug aus dem Manifest:

Regel #1: Wir vertrauen auf die Aktienmärkte.

Aktien sind seit Beginn der Finanzmärkte die renditestärkste aller Anlageklassen. Sie haben Weltkriege, Wirtschaftskrisen, Hyperinflationen, unterschiedlichste politische Regime und mehr überstanden. Aktienmärkte steigen langfristig zu 99,9% - und darauf vertrauen wir.

zum kompletten StrategyInvest Manifest »

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