Schritt-für-Schritt Anleitung zur Aktienbewertung

von Jannes Lorenzen

Gründer, Investor, Strategie-Lead & Ökonom

Die Bewertung einer Aktie ist nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst. Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen und viele Facetten einer Aktie, die du anschauen kannst.

Ich zeige dir, wie ich vorgehe, welche Schritte die wichtigsten sind und wie am Ende eine Entscheidung zum Kauf oder Nicht-Kauf einer Aktie entsteht. Verstehe das hier als Orientierung, jeden Schritt kannst du dann über die Verlinkungen vertiefen. Viel Spaß!

Was du vorher wissen musst

Wenn du in Einzelaktien investierst und versuchst, damit eine bessere Rendite als die des Marktes zu erzielen, ist die Fundamentalanalyse mit einem mittel- und langfristigen Anlagehorizont die in meinen Augen beste Strategie für Privatanleger.

Die These dahinter: Die Aktie hat einen äußeren Wert. Das ist der Preis, also der aktuelle Aktienkurs. Dieser orientiert sich langfristig am inneren Wert, der fundamental gerechtfertigt ist, schwankt aber um diesen herum. Wir wollen dann investieren, wenn der innere über dem äußeren Wert liegt.

Daraus ergibt sich unsere Zielsetzung: Wir müssen eine eigene Bewertung vornehmen und diese dann mit der Bewertung des Marktes vergleichen.

Dabei ist jede Aktienanalyse und Aktienbewertung nur eine Näherung. Es ist keine mathematische Gleichung, mit der wir am Ende wissen, dass der innere Wert definitiv bei 157,54€ liegt. Es gibt keine Garantie und wir können nicht alles vorhersehen - das mag im ersten Moment ernüchternd klingen, ist aber die einzig realistische Erwartungshaltung.

Schritt 1: Verstehe das Unternehmen

Du wirst auf ein Unternehmen aufmerksam. Womöglich durch meine Analysen, die Medien oder weil du selbst Kunde bist. Was sind nun die ersten Schritte?

Ich schaue mir zuerst die Kursentwicklung an. Nicht, weil ich daraus irgendwelche Schlussfolgerungen ziehe, aber weil es mir hilft, die Aktie einzuordnen: Gab es zuletzt tendenziell eine Verbesserung oder Verschlechterung? Gab es große Kurssprünge oder Abstürze, die ich mir anschauen wollte?

Bei einigen Unternehmen wie Apple oder Spotify weißt du wahrscheinlich sofort, was sie machen. Bei unbekannteren Unternehmen ist das nicht der Fall. Hier ist also wichtig zu verstehen: In welcher Branche bewegen wir uns? Welche Produkte werden angeboten und typischerweise an wen? Wie zahlen Kunden - einmalig oder im Abo-Modell?

Abschließend werfe ich einen ersten schnellen Blick auf drei Arten von Finanzkennzahlen: Das Bewertungsniveau (meist KGV, KGVe und KUV), die Profitabilität (operative Marge & Nettomarge), und das Umsatzwachstum. Diese Zahlen bekommen wir bei nahezu allen Finanzwebseiten.

Das ist nur ein erster, oberflächlicher Blick. Einige Aktien sind dann womöglich schon interessant, wenn sie nicht stark wachsen, Geld verlieren und trotzdem teuer bewertet sind. Auch das kann aber eine Frage der Strategie sein: Will ich lieber in profitable, günstig bewertete Unternehmen investieren, die aber kaum wachsen? Oder will ich lieber bei der nächsten Wachstumsstory dabei sein?

Die Strategie dahinter ist unterschiedlich und damit verschiebt sich auch der Fokus der Analyse. Die Schritte der Aktienbewertung bleiben aber die gleichen.

Zusammenfassung

  • Wie hat sich der Aktienkurs über die letzten Jahre entwickelt?
  • Was verkauft das Unternehmen und in welcher Branche ist es unterwegs?
  • Kurzcheck: Wie ist es aktuell bewertet, wächst es und ist es profitabel?

Wie ermitteln wir nun den Unternehmenswert?

Der eine Teil einer Aktienbewertung ist das Verstehen. Der andere ist das kritische Analysieren. Letzteres ist der schwierigere Teil und der, der gute von durchschnittlichen Anlegern unterscheidet. Wer nicht einmal den ersten Schritt unternimmt, wird leider meistens schlechte Ergebnisse erzielen.

Wie finden wir jetzt heraus, wieviel unser Unternehmen wert sein sollte? Schauen wir auf den Umsatz der Vergangenheit und andere Finanzkennzahlen? Oder schaue ich mir das Unternehmen qualitativ an, was das Geschäftsmodell ist und was es stark macht?

Die simple Antwort: Beides. Eine gute Analyse ist sowohl quantitativ (Zahlen) als auch qualitativ (Geschäftsmodell & Zukunftsaussichten).

Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Zahlen resultieren aus dem Geschäftsmodell. Ein starkes Geschäftsmodell und gute Zukunftsaussichten werden wir nicht in den Zahlen der Vergangenheit sehen, dabei ist das der wichtigste Teil bei der Aktienbewertung.

Stell dir vor, du kaufst ein Unternehmen als ganzes und sitzt mit dem Verkäufer am Tisch. Würdest du dir nur die Zahlen angucken und keine Frage zum Geschäftsmodell oder den Zukunftsaussichten stellen? Nein. Würdest du dir nur das Geschäftsmodell erklären, aber keine Zahlen zeigen lassen? Ebenfalls nicht.

Zusammenfassung

Eine Aktienbewertung umfasst immer quantitative (Zahlen) und qualitative (Geschäftsmodell & Zukunftsaussichten) Aspekte.

Schritt 2: Geschäftsmodell & Burggraben

Die folgenden Schritte sind nicht klar voneinander zu trennen: Geschäftsmodell, Zukunftsaussichten und Zahlen hängen immer miteinander zusammen. Schauen wir uns zuerst das Geschäftsmodell an.

  • Wie verdient ein Unternehmen wirklich Geld? Woher kommt der Umsatz, woher der operative Gewinn? Beispiel: Bei Amazon stellt man fest, dass der Großteil des Umsatzes aus dem Online-Handel kommt, der Großteil des operativen Gewinns allerdings aus dem Cloud-Geschäft.
  • Warum kaufen Kunden bei dem Unternehmen? Was ist das, was das Unternehmen gut kann?
  • Wie sieht der Markt aus? Wer sind die Konkurrenten? Wächst der Markt? Gibt es in diesem andere wichtige Entwicklungen?
  • Gibt es einen Burggraben? Dieser bezeichnet die Fähigkeit das eigene Geschäftsmodell zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass es nicht einfach kopiert werden kann. Es ist ein Schutz vor zu großer Konkurrenz und ein Schutz der eigenen Umsätze und Gewinne.

Tipp: Ausführliche Beiträge zur Analyse des Geschäftsmodells und des Burggrabens

Zusammenfassung

  • Wie verdient ein Unternehmen Geld?
  • Warum kaufen Kunden bei dem Unternehmen?
  • Wie sieht der Markt aus?
  • Gibt es einen Burggraben?

Schritt 3: Zahlencheck

Schauen wir nun ins Zahlenwerk eines Unternehmens. Je nach Phase sollte der Fokus woanders liegen.

  • Ist es ein junges Wachstumsunternehmen? Dann wollen wir verstehen, wie stark es wächst, wie groß der Markt ist und wie profitabel es werden kann. Da wir oft noch keine Gewinne haben, brauchen wir Bewertungskennzahlen wie das Kurs-Umsatz-Verhältnis.
  • Ist es ein etabliertes Unternehmen? Dann schauen wir eher ausgewogen auf alle Kennzahlen, legen mehr Wert auf Gewinn als Umsatz.
  • Ist es ein Unternehmen mit großen Problemen? Dann wollen wir verstehen, wie viel Geld noch zur Verfügung steht, ob es noch Geld verdient, wie stark es ggf. schrumpft.

Grundsätzlich haben wir nur vier Quellen, aus denen offizielle Zahlen des Unternehmens kommen:

  • Gewinn- und Verlustrechnung (Income Statement): Die offizielle Berechnung, wie viel Gewinn oder Verlust ein Unternehmen erzielt hat und Auflistung aller Einnahmen und Ausgaben.
  • Kapitalfluss-Rechnung (Cashflow Statement): Ähnlich zur GuV, allerdings werden hier nur tatsächliche Zahlungsflüsse beachtet. Es entspricht mehr den Bewegungen auf einem Bankkonto.
  • Bilanz (Balance Sheet): Gibt Auskunft, von wo das Kapital in einem Unternehmen kommt (Eigen- oder Fremdkapital) und wo es investiert ist (Maschinen, Grundstücke, Cash).
  • Börsenkennzahlen: Aus der Anzahl der ausgegebenen Aktien und dem Aktienkurs ergibt sich der Börsenwert, also der Preis des Unternehmens.

Aus diesen vier Quellen berechnen sich quasi alle Kennzahlen, die du brauchst und auf Finanz-Webseiten findest. Manchmal gibt es nicht sofort ersichtliche Sondereffekte, für die es aber meist Erklärungen in den Veröffentlichungen der Unternehmen oder in Analysen (wie meinen) gibt.

Dazu gibt es weitere externe Quellen, beispielsweise wie stark Experten das Wachstum des Unternehmens oder des Marktes einschätzen.

Mit diesen Zahlen bekommen wir einen Einblick in Fragen wie:

  • Wie hoch ist die Gewinnmarge eines Unternehmens?
  • Wie stark wächst es?
  • Wie viel Geld schüttet es an Aktionäre aus?
  • Wie viel Geld hat es auf dem Konto?

Schritt 4: Zukunft & Strategie

Unternehmen haben eine Angewohnheit: Sie stellen uns ihre Zukunft immer rosig da. Sie haben für alle Probleme eine Lösung und erzählen uns, wie toll diese ist. Unsere Aufgabe als Aktionäre ist das kritisch zu hinterfragen. Es heißt nicht, dass die Unternehmen zwangsweise lügen. Es ist aber klar, dass sie ihr Unternehmen nicht unnötig schlecht reden.

Ich denke immer in Chancen und Risiken, Stärken und Schwächen. Die Unternehmen sind selbst gut darin uns ihre Stärken zu verkaufen und aufzuzeigen, wo es Chancen gibt. Entsprechend müssen wir selbst bei den Schwächen und möglichen Risiken tiefer graben.

Die Unternehmen erzählen uns meist quartalsweise in Pressemitteilungen, Präsentationen für Investoren oder im Geschäftsbericht, wie sie warum vorgehen. Alles finden wir im Investor Relations Bereich eines Unternehmens. Auch Interviews von CEOs können dazu spannend sein.

Dabei ist es wichtig, sich zu fokussieren. Wir haben nicht die Zeit, uns jedes Detail anzuschauen. Meistens gibt es wenige wichtige Themengebiete, die die strategisch wichtigsten sind.

Ein paar Beispiele, wo sich genaues Hinsehen lohnt:

  • Netflix hatte mit deutlich abflachendem Nutzerwachstum zu kämpfen. Wie will das Management das wieder ändern? Glaube ich an diese Strategie?
  • Mercedes-Benz befindet sich in einem enormen Wandel zur Elektromobilität. Wie geht es vor? Wie steht es gegenüber der Konkurrenz dar?
  • Spotify ist bisher nicht oder kaum profitabel. Wie will es das ändern? Welche Hebel gibt es?

Du wirst nie alles vorhersehen können. Es gibt immer das Risiko, dass das Management Fehler macht oder die Konkurrenz alles richtig macht, vielleicht auch mit Glück mal eine im Nachhinein sehr vorteilhafte Entscheidung trifft. Nicht vergessen: Eine Aktienbewertung ist eine Näherung, kein Hellsehen.

Zusammenfassung

  • Unternehmen verkaufen sich selbst tendenziell zu positiv
  • Unsere Aufgabe ist kritisches Prüfen und Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken abzuwägen

Schritt 5: Die Frage der Bewertung

Nun haben wir schon ein ziemlich gutes Bild vom Unternehmen. Kommen wir zur entscheidenden Frage: Wie viel ist uns das alles wert? Bei welchem Preis fänden wir das Unternehmen attraktiv bewertet, bei welchem wäre es uns zu teuer?

Es gibt unterschiedliche Wege sich der Aktienbewertung zu nähern. Mein Favorit: Das Renditerechner-Tool.

In der Theorie beruht alles auf dem Discounted-Cashflow-Modell. Ein Unternehmen ist demnach heute so viel wert wie alle auf den heutigen Wert abdiskontierten Zahlungsströme der Zukunft. Diese Modelle sind erfahrungsgemäß aber durch ihre komplexen Annahmen wenig praxistauglich. Es ist aber die Grundlage, die wir immer im Hinterkopf behalten sollten.

Praxistauglichere Methoden zur Aktienbewertung:

  • Renditerechner-Tool: Ich habe mein eigenes Tool gebaut. Darin werden Annahmen getroffen, wie stark der Umsatz wachsen wird, wie sich die Profitabilität und das Bewertungsniveau entwickeln wird. Daraus lässt sich dann berechnen, wieviel das Unternehmen in 10 Jahren wert sein könnte und welche Rendite das bringt.
  • Peer-Vergleich: Wie sind die Konkurrenten bewertet? Um Mercedes-Benz zu bewerten, hilft uns bspw. ein Blick auf Tesla, Volkswagen oder BMW. Wir können schauen, wenn wir im relativen Vergleich günstiger finden. Diese Methode ist recht einfach, hat nur den Nachteil, dass möglicherweise alle Konkurrenten überbewertet sein könnten und man diese dann übernimmt.
  • Sum-of-the-Parts-Bewertung: Einige Unternehmen haben unterschiedliche Segmente, die schwer zu vergleichen sind. Beispiel: Amazon mit dem E-Commerce (geringe Marge) und der Cloud (hohe Marge, hohes Wachstum). Wir können die wichtigsten Segmente einzeln bewerten - nach den anderen genannten Methoden - und am Ende die Werte der Segmente aufsummieren.

In der Praxis lassen sich natürlich auch verschiedene Ansätze kombinieren. Sie können ein breiteres Bild geben, welcher Wert basierend auf deinen Annahmen gerechtfertigt wäre und ab wann du dich wohl fühlst, zu investieren.

Tipp: Ausführliche Beiträge zur Aktienbewertung

Tipps vor dem Kauf

Eine lose Sammlung an Tipps, die dann beachten solltest, wenn du eine Aktie kaufst oder im Depot hast:

  • Setz deine Hürde nicht zu niedrig an. Gerade zu Beginn neigt man dazu jede Aktie toll zu finden oder will endlich eine Aktie kaufen.
  • Sage öfter Nein als Ja, wenn du dich fragst, ob du eine Aktie kaufen solltest.
  • Es kann asymmetrische Chance-Risiko-Verhältnisse geben. Wenn das Abwärtspotenzial begrenzt ist, es aber eine kleine Chance auf einen großen Wertanstieg gibt, könnte auch das eine Kaufthese sein.
  • Halte dein Gesamtportfolio im Blick. Sorge darin für eine ausreichende Diversifikation, die zu deiner Risikotoleranz passt.
  • Es geht bei Unternehmen (meistens) nicht immer alles gut
  • Es bleibt bei Unternehmen (meistens) nicht immer alles schlecht
  • Du kannst nicht alles wissen und nicht hellsehen
  • Sei vorsichtig bei deiner Intuition. Wir alle haben kognitive Verzerrungen, Denkfehler und logische Fehlschlüsse, die uns unbewusst irrational handeln lassen.

Bonus: Smart-Money-Faktoren

Die gezeigten Schritte sind ein grober Leitfaden, an dem du dich orientieren kannst. Darüber hinaus kann es immer mal Faktoren geben, die spannende Anstöße liefern - zur Analyse selbst, um auf eine Aktie aufmerksam zu werden oder um ein noch vollständigeres Bild zu erhalten.

  • Gab es in den letzten Monaten vermehrt Insiderkäufe oder -verkäufe?
  • Was macht das Management? Wie wird es bezahlt? Sind die Anreize die richtigen?
  • Ist das Unternehmen gerade erst an die Börse gegangen (IPO)?
  • Indirekte Signale wie Website-Traffic, Mitarbeiterzufriedenheit, Kundenbewertungen,...
  • Wie transparent kommuniziert das Unternehmen? Zeigt es uns freiwillig mehr als es muss? Oder stellt es vor allem eigens aufgebaute und geschönte Kennzahlen in den Vordergrund?

Um das klar zu sagen: Nicht bei all diesen Fragen gibt es zwangsweise Erkenntnisse, die du nutzen kannst oder die eindeutige Schlussfolgerungen zulassen. Einige neigen dazu jedes Signal überzuinterpretieren. Ich sehe sie als Bonus on top.

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